Mehr Humanismus wagen (Henk)

Mein Zugang zu Diversität

‚Diversität‘ triggert. Während von den kosmopolitischen anywheres genderfluide (Selbst-)Darstellungen nicht nur in den Vereinigten Staaten als emanzipatorisch gefeiert werden, sind Menschen in den provinziellen nowheres entgeistert über die Auflösung sämtlicher Identitätskategorien und fürchten um ihre Kinder. An der Theke der letzten Dorfkneipe hört man tatsächlich Leute palavern: „Sag’ doch einfach, dufühlst dich als Frau und geh’ dienstags in die Frauensauna.“ Hinter diesem Ratschlag steckt sicherlich die Überzeugung, eine (vermeintliche) Widersprüchlichkeit hinter der Durchbrechung von biologischen Kategorien entlarven zu können: Aus der Annahme, dass dein soziales Geschlecht nur ein Konstrukt ist, das auf deiner momentanen Gefühlslage beruht, folgt, dass du es wechseln kannst wie deine Unterwäsche. Daran muss Kritik abperlen, weil deine Gefühle eben deine Wirklichkeit sind. Stimmst du dem zu, dann müsstest du mich als Person, die ich mich heute als weiblich fühlen könnte, in der Frauen-Sauna akzeptieren. Wenn du das nicht wolltest, dann scheinst du doch von festen Kategorien der Geschlechtszugehörigkeit auszugehen, was du ansonsten verneinst. Quod erat demonstrandum.

Mir geht es nicht um die detaillierte Überprüfung der Tragfähigkeit des – zugegeben konstruierten – Arguments, sondern zunächst um den Hinweis darauf, dass die Lage zwischen Diversitätsbefürwortern und -ablehnern vertrackt ist. Spaltungen zu befeuern ist sicherlich simpel – der von mir herangezogene Unterschied zwischen nowheres und anywheres, denen ich die einfachen Leute aus der Provinz bzw. die kosmopolitisch denkende Bildungselite aus der Großstadt zugeordnet habe, ist in der Hinsicht keine Ausnahme! Davon nehme ich hiermit Abstand: Anstatt die Lagertrennung aufrechtzuerhalten, möchte ich unter Bezug auf das zweieinhalbtausendjährige okzidentale kulturelle Erbe im Folgenden einen Vorschlag machen, um den harschen Umgang miteinander zu überwinden.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, Artikel 1. Absatz 1 des deutschen Grundgesetzes. Oft eingefordert, oft mit Füßen getreten, oft verlacht – ein Ideal, eine Leitvorstellung, eine dahingesagte hohle Phrase? Jedenfalls abgelehnt aus Gründen des Speziezismus-, Anthropozentrismus- oder Essentialismusverdachts. Diese Einwände nehme ich allerdings gar nicht erst ernst und deswegen nicht inden Blick – Wisch und Weg, wie es in der Werbung vor Urzeiten einmal hieß.

Mir geht es an dieser Stelle um die Verbindung zwischen Diversität und derjenigen Weltanschauung, die der Rede von der Menschenwürde zugrunde liegt. Sie scheint mir eine probate Basis für das 21. Jahrhundert zu sein und damit für die täglich ausgefochtenen Kämpfe um Diversität. Dabei handelt es sich um den Humanismus, der in der Idee wurzelt, dass der Mensch die Mitte der Welt bildet, dass der Mensch das Maß der Dinge ist, wie der antike Philosoph Protagoras es in seinem Homo mensura-Satz ausgedrückt hat. Aus dieser Sonderstellung leitet sich schließlich die menschliche Würde ab (cf. Mayer-Tasch 2006).

Tatsächlich ist der Humanismus wieder en vogue. In den letzten Jahren ist eine Vielzahl an Studien erschienen, in denen sich Autoren und Autorinnen darum bemühen,die Aktualität des Humanismus nach dem antihumanistischen Denken in Philosophie und Humanwissenschaften im 20. Jahrhundert zu erweisen. Zuletzt hat der Koblenzer Philosoph Jürgen Goldstein unter dem Titel Menschlichkeit (2025) einen Essay vorgelegt, in dem er dafür plädiert, den Humanismus aus der Kiste aussortierter Kleidungsstücke herauszuholen und ihn zu entstauben, denn der

„Humanismus ist nicht ein beliebiges Ideal der westlichen Welt – es ist das Ideal, seit die ersten Denker der Renaissance von der Würde des Menschen sprachen, eine neue Wirklichkeit erprobten, in der Bildung den Schlüssel zur menschlichen Selbstentfaltung erkannten, die Individualität genossen und die Selbstbestimmung, aber auch nach Formen gemeinschaftlicher Sittlichkeit und politischer Freiheit suchten. […] ‚Humanismus‘ ist nicht lediglich eine von Historikern fein säuberlich einzugrenzende Zeitspanne, das ist vielmehr einnoch nicht für ungültig erklärtes Projekt der Selbsterschaffung eines modernen Menschen, das auf die eigenen Kräfte vertraut, um seine Grenzen wissend, aber nicht zu entmutigen, wenn nicht alle Morgenblütenknaben- und -mädchenträume reifen“ (ibid.: 9).

Danach, den Humanismus wiederzubeleben, trachtet ebenso der Psychiater Thomas Fuchs, der sich aus leibphänomenologischer Perspektive in Die Verteidigung des Menschen (2020) gegen den naturalistischen Reduktionismus wendet, der den Wissenschaftsbetrieb zu bestimmen scheint. Auch der Münchener Philosoph Julian Nida-Rümelindiskutiert in seinem Plädoyer für eine neue humanistische Leitkultur diese Weltanschauung in einem ersten Schritt als „Variante des Non-Naturalismus“ (2018: 191). Darunter versteht er eine philosophische Position, die die Annahme zurückweist, alle Vorkommnisse in dieser Welt ließen sich allein mit naturwissenschaftlichen Modellen erklären. In einem zweiten Schritt arbeitet er dann sein Verständnis von Humanismus heraus, zentriert um Rationalität, Freiheit und Verantwortung: „Die Fähigkeit, vernünftige, wohlbegründete Überzeugungen auszubilden (1), die Fähigkeit zu einer autonomen Lebensgestaltung (2) und die Fähigkeit, Verantwortung wahrzunehmen (3), sind die zentralen Bildungsziele eines erneuerten Humanismus“ (ibid.: 239). Die Verbindung von rationaler Abwägung, Autonomie und Verantwortung, die dem humanistischen Ideal der Charakterformung entsprechend durch Bildungsangebote entfaltet werden müsse, bietet dem Menschen des 21. Jahrhundert, so Nida-Rümelin, Orientierung – gerade im Umgang mit Diversität, will ich hinzufügen.

Der Gefahr zum Trotz, die konzeptuellen Brüche, Abzweigungen und Transformationen hinter den Humanismus-Vorstellungen im Lauf der Geschichte einfach einzuebnen, lässt sich der Gedanke der Sonderstellung des Menschen als die transepochale Kontinuität im Humanismus behaupten. Noch im 20. Jahrhundert hat der französische Philosoph Jean-Paul Sartre derselben Überzeugung Ausdruck verliehen wie sein antiker Vorläufer Protagoras: „Der Bereich der Philosophie ist der Mensch, das heißt, jedes andere Problem kann nur in bezug auf den Menschen erfaßt werden“ (1966: 78). Übrigens gebe ich damit das letzte Wort im berühmt berüchtigten Humanismusstreit Ende der 1966er Jahre nicht Foucault,sondern Sartre. Damals schlug das Pendel wohl eher in Richtung Foucaults und damit des Antihumanismus aus: Seine Ordnung der Dinge (i.O. Les mots et leschoses, 1966) mit der polemischen, aber glaubwürdigen Ankündigung endet mit der Wette, dass der Mensch (in den Humanwissenschaften) wie ein Gesicht am Strand, davongeschwemmt von den Wellen, verschwinden werde (cf. ibid.: 398). Diese Idee ist Sartre, der eine Verbindung zwischen Mensch, Freiheit, Humanität und Verantwortung zieht, sauer aufgestoßen…

Mit Blick auf das hier verhandelte Thema scheint mir der Humanismus-Diskurs im 19. Jahrhundertvon außerordentlichem Interesse zu sein, weil zu den Leitvorstellungen der vorausgegangenen Epochen originelle Gedanken hinzukommen. Der Psychoanalytiker Erich Fromm hat herausgearbeitet, dass die Realisierung der universellen Idee Menschheit, die jedes Individuum in sich trägt, „nicht durch Verzicht auf Individualität zu erreichen ist“ (2025: 220f.). Mensch werden bedeutet sich zu verwirklichen. Die Einheit der Idee Mensch, so lässt sich Fromm verstehen, liegt in der Vielfalt der menschlichen (Selbst-)Entwürfe. Dass der Selbstverwirklichung ethische und politische Grenzen gesetzt sind, versteht sich wohl von selbst…

Universalität und Diversität schließen sich also keineswegs aus, weil Diversität bereits grundlegend zum Humanismus gehört. Diesen Gedanken antizipiert, so möchte ich ihn an der Stelle jedenfalls lesen, der frühneuzeitliche Humanist Giovanni Pico della Mirandola, als er in Über die Würde des Menschen den Menschen – wohl primär aufgrund seiner Anpassungsfähigkeit gegenüber der Natur, in der er sich nicht erschöpft – mit einem Chamäleon verglichen hat (cf. 1990: 7). Humanisten stehen anders gesagt für Vielfalt ein, weil Menschen unterschiedlich sind. Das vertritt Sarah Bakewell in Wie man Mensch wird. Auf den Spuren der Humanisten. Freies Denken, Neugierde und Glück (2023): „Der zweite Grundsatz [der humanistischen Prinzipien] betont […]  Diversität. Wir sind zwar alle Menschen, aber wir erfahren das Leben auf unterschiedliche Weise, je nach Kultur, politischer Situation und anderen Faktoren – und diese Unterschiede sollten respektiert und gefeiert werden (ibid.: 227). Diese Überzeugung hat ebenfalls Nida-Rümelin offensiv formuliert: „Humanistisches Denken dagegen grenzt nicht aus, sondern bezieht ein“ (Nida-Rümelin 2018: 409). Überführt wurde der Gedanke vor wenigen Jahren schließlich in die internationale humanistische Erklärung, wo es heißt: „Wir lehnen alle Formen von Rassismus und Vorurteilen und die daraus entstehenden Ungerechtigkeiten ab. Wir streben stattdessen danach, das Wohlergehen und die Gemeinschaft der Menschheit in ihrer ganzen Vielfalt und Individualität zu fördern“ (zit. nach Bakewell2023: 414).

Wollen wir Diversität in unserer Gesellschaft bejahen, brauchen wir grundlegend eine Weltanschauung, die zwei Kriterien erfüllen muss: Erstens müssen wir uns auf sie in unserer (post-)säkularen Spätmoderne einigen können, und zweitens muss sie es tatsächlich erlauben, Vielfalt zu bejahen. Das leistet – Trommelwirbel – der Humanismus. Der Humanismus ist per se divers, weil er Individuen und ihre Selbstentfaltungen ins Zentrum rückt. Das ist die unhintergehbare Wahrheit des homo mensura-Satzes von Protagoras. Darüber hinaus erscheint mir der Humanismus in der pluralen Welt als die einzige Weltanschauung, die wirklich konsensfähig sein könnte – den Anti-, Trans- und Posthumanismusbeschwörungen, die den Menschen überwinden wollen, zum Trotz. Den Menschen überwinden zu wollen, ist im Kern eine unmenschliche Vorstellung, die neue Monster gebiert. Nicht zuletzt bietet der Humanismus den Vorteil, kombinierbar mit religiösen Überzeugungen zu sein: Alle Religionen können sich auf die Würde des Menschen einigen, aus der nicht zuletzt das ‚Prinzip Verantwortung‘ für die Welt erwächst.  

„Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist“, hat der deutsche Philosoph Fichte bereits vor über 150 Jahren geschrieben. Unsere Philosophie hängt sicherlich auch davon ab, was für Menschen wir sein wollen: Wenn wir Vielfalt anerkennen wollen, wenn wir wahrhaft Mensch werden wollen, dann wählen wir den Humanismus. Jetzt. Es ist Zeit.

 

Bibliographie:

Bakewell, Sarah (2023): Wie man Mensch wird. Auf den Spuren der Humanisten. Freies Denken, Neugierde und Glück. München: C.B. Beck.

Foucault, Michel (1966): Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines. Paris: Gallimard.

Fromm, Erich (2025): Humanismus in Krisenzeiten. Texte zur Zukunft der Menschheit, herausgegeben und eingeleitet von Rainer Funk. München: DTV.

Fuchs, Thomas (2020): Verteidigung des Menschen. Grundfragen einer verkörperten Anthropologie. Berlin: Suhrkamp.

Goldstein, Jürgen (2025): Menschlichkeit. Vom Plan der Humanisierung der Welt. Berlin: Mathes & Seitz.

Mayer-Tach, Peter Cornelius (2006): Mitte und Maß. Leitbild des Humanismus von den Ursprüngen bis zur Gegenwart. Baden-Baden: Nomos.

Nida-Rümelin, Julian (22018): Humanistische Reflexion. Berlin: Suhrkamp.

Picodella Mirandola, Giovanni (1990): De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen. Übersetzt von Norbert Baumgarten. Hamburg: Meiner Verlag.

Sartre,Jean-Paul (1966a): „Die Anthropologie“, in: Ders.: Mai ’68 und die Folgen. Reden, Interviews, Aufsätze 2. Hamburg: Reinbek.