Unser Zugang zu Diversität II (Moritz Heß)
Mein Zugang zu Diversität
Phänomene, die ich heute mit Begriffen wie ‚Heterogenität‘ oder ‚Diversität‘ verbinde, beschäftigen mich seit meiner Kindheit. Die Erinnerungen, die sich einstellen, wenn ich, wie jetzt, über meine persönlichen Erlebnisse mit Vielfalt und Verschiedenheit nachdenke, reichen teilweise bis in meine Grundschulzeit zurück: Da ist ein kurdischer Mitschüler, dessen Familie unser Dorf wieder verlassen muss, gerade als wir uns trotz allen Verständigungsschwierigkeiten angefreundet hatten. Ein Junge, der von den anderen für sein Stottern gehänselt wird. Eine Mitschülerin, die alle „irgendwie komisch“ finden und die mal wiederübrig geblieben ist – wie immer, wenn Pärchen oder Gruppen gebildet werden sollen. Einblicke in die Elternhäuser weiterer Kinder fallen mir ein, die mich haben ahnen lassen, dass „böse Menschen“ nicht einfach als solche zur Welt kommen. Vielleicht haben das Schlagen mit der Plastikschaufel im Sandkasten und das Werfen von Holzbauklötzen im Kindergarten etwas mit dem Geschlagenwerden im eigenen Zuhause zu tun?
Erfahrungen wie diese böten sich an, um mich rückblickend als geborenen Verfechter sozialer Gerechtigkeit zu inszenieren. Nicht nur mit Blick auf die Zuverlässigkeit meiner Erinnerung ließen sich da allerdings gewisse Zweifel anmelden. Zur ganzen Geschichte gehören nämlich auch die folgenden Episoden: Vermutlich so etwa in Klasse drei: Meine Grundschullehrerin liest das Diktat nach Auffassung meines etwa neunjährigen Ich etwas zu deutlich vor. Offensichtlich will sie auch den Kindern die Chance auf eine passable Note geben, denen Rechtschreibung und Zeichensetzung nicht ganz so leicht fallen wie mir. Aber so kann ich doch gar nicht zeigen, welche Vorteile mir durch das allabendliche Vorlesen gegenüber denjenigen entstanden sind, die vorm Zubettgehen stundenlang Playstation zocken und schon vor der Schule Cartoons auf SuperRTL glotzen dürfen!
Zu Beginn von Klasse fünf ist mir die Feststellung, plötzlich unter „meinesgleichen“ zu sein, dann sogar eine Wortmeldung wert: Wie schön es doch sei, die erste Viertelstunde nach jeder zweiten großen Pause nicht mehr mit ermüdenden Gesprächen zwecks Streitschlichtung zwischen den immergleichen Rabauken verplempern zu müssen! Willkommen am Gymnasium, wo man, zirka zehn- und elfjährig, mit der Fabel von den Mäusen im Milchtopf empfangen und auf einen ziemlich gnadenlosen Konkurrenzkampf eingeschworen wird – strampeln, strampeln, strampeln, jede:r gegen jede:n und alle für sich allein. Wer nicht mithält, ersäuft. Genug gestrampelt? Acht Jahre später dann: Willkommen in derBildungselite des Landes – alle Türen stehen euch offen, macht was draus! Zitat Ende.
Das klingt jetzt vielleicht schlimmer als es war – zumindest für mich. Tatsächlich gab es viele engagierte, liebevolle, aufgeschlossene und gerechtigkeitsliebende Lehrkräfte und ich selbst hatte bei alldem überwiegend eine richtig gute Zeit. Aber ich hatte die Vorauswahl ja schon durchlaufen. Typischerweise geht die Herstellung von sogenannter Leistungshomogenität mit der Erzeugung von weitgehender Homogenität hinsichtlich der sozialen Herkunft einher (vgl. El-Mafaalani 2021). Und ich hatte nun mal Startbedingungen vorgefunden, die es mir erlaubt haben, den expliziten wie impliziten Erwartungen eines selektiven Bildungssystems zu entsprechen, das noch immer in weiten Teilen von pseudomeritokratischen Prinzipien und einer vereinzelnden Wettbewerbsstrategie durchdrungen ist (vgl. Helsper 2015; Hummrich 2023).
Welche Möglichkeiten – und damit auch: Verantwortung – jede einzelne erwachsene Person dabei hat, zeigt das Beispiel eines Oberstufenleiters, der seine Abschiedsrede dazu nutzte, die frisch als allgemein hochschulreifzertifizierten Jugendlichen neben allem gerechtfertigten Stolz auf die eigene Leistung an die ungleichheitsverstärkenden Effekte eines zunehmend marktförmig strukturierten Schulsystems zu erinnern. Das Reden von „Deutschlands Bildungselite“ aufgreifend könnten seine Worte gelautet haben: Nutzt eure Privilegiertheit und solidarisiert euch mit denen, die schlechtere Startbedingungen vorfinden als ihr (vgl. Rieger-Ladich 2022).
Überzeugende Theorien sowie theoretisch fundierte und empirisch bewährte Handlungskonzepte sind dabei wichtiges Rüstzeug. So zum Beispiel Bourdieus Theorien des Sozialen, die nachvollziehbar machen, weshalb wir ständig und oft unbemerkt Unterscheidungen treffen – Unterschiede machen –, die nicht selten im Widerspruch zu unseren bewussten Überzeugungen stehen (Bourdieu 1987; King 2022). Vor dem Hintergrund des Ideals sozialer Gerechtigkeit und angesichts einer Schülerschaft, die nie so divers war wie heute (El-Mafaalani2025), leisten Erkenntnisinstrumente wie Bourdieus Habitus- und Kapitalbegriff einen wertvollen Beitrag, wenn es darum geht, die anhaltende Reproduktion sozialer Ungleichheiten auch im – sowie durch das – Bildungssystem zu erklären (vgl. Bourdieu/Passeron 1971; Rieger-Ladich/Grabau 2017). Diese Zusammenhänge zu verstehen, ist wichtig, um wirksame Veränderungen auf allen Ebenen anzuregen.
Auch systemische (vgl. bspw. Schleiffer 2013) und psychoanalytische (vgl.Gerspach 2018; Günther/Heilmann/Kerschgens 2022) Zugänge habe ich hierbei als bereichernd erlebt, da sie helfen können, auffällige und störende Verhaltensweisen als (oftmals verzweifelte) Versuche zu verstehen, mit Problemen und Konflikten fertig zu werden. Über ein verkürztes Verständnis von Normabweichungen als reine „Disziplinprobleme“ hinaus, können dann auch benachteiligende Strukturen und Machtverhältnisse in den Blick geraten. Zu einem vertieften Verständnis der Erfahrungen und Lebenswelten Jugendlicher in schwierigen Lagen beabsichtige ich, mit meinem qualitativ-empirischen Dissertationsvorhaben beitragen. Dabei stellt unter anderem Vera Kings Konzept des adoleszenten Möglichkeitsraums einen wichtigen Bezugspunkt dar (vgl. King 2013).
Während all die genannten Theorien, Konzepte und Methoden auf den ersten Blick vor allem Veränderungen auf Seiten pädagogisch Handelnder als erforderlich erscheinen lassen, besteht eine aus meiner Sicht besonders wichtige Einsicht darin, dass Voraussetzungen geschaffen werden müssen, die es pädagogisch Handelnden überhaupt ermöglichen, den Menschen, die ihre Unterstützung so dringend brauchen, auch tatsächlich hilfreiche Bezugspersonen zu sein – ohne dabei langfristig die eigene Gesundheit auf Spiel zu setzen. Der kürzlich erschienene Band Kinder. Minderheiten ohne Schutz (El-Mafaalani/Kurtenbach/Strohmeier2025) macht ein weiteres Mal deutlich: Hiervon sind wir aktuell gefährlich weitentfernt.
Literatur
Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Bourdieu, P./Passeron, J.-C. (1971): Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. Stuttgart: Klett.
El-Mafaalani, Aladin (7. Aufl., 2021): Mythos Bildung. Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft. Köln: Kiepenhauer & Witsch.
El-Mafaalani, Aladin (2025): Superdiverse Kindheiten. In: A. El-Mafaalani/S. Kurtenbach/K. P. Strohmeier: Kinder. Minderheiten ohne Schutz. Köln: Kiepenhauer & Witsch, S. 65-86.
El-Mafaalani, Aladin/Kurtenbach, Sebastian/Strohmeier, Klaus Peter (2025): Kinder. Minderheiten ohne Schutz. Köln: Kiepenhauer & Witsch.
Gerspach, Manfred (2018): Psychoanalytische Pädagogik. In: Socialnet GmbH [Hrsg.]: socialnet Lexikon, o. S. Unter:https://www.socialnet.de/lexikon/Psychoanalytische-Paedagogik [letzter Zugriff:25.03.2025].
Günther, Marga/Heilmann, Joachim/Kerschgens, Anke (Hrsg.) (2022): Psychoanalytische Pädagogik und Soziale Arbeit. Verstehensorientierte Beziehungsarbeit als Voraussetzung für professionelles Handeln. Gießen:Psychosozial-Verlag.
Helsper, Werner (2015): Schülerbiographie und Schülerhabitus. Schule und Jugend als Ambivalenzverhältnis? In: S. Sandring/W. Helsper/H.-H. Krüger[Hrsg.]: Jugend. Theoriediskurse und Forschungsfelder. Wiesbaden: Springer VS,S. 131-159.
Hummrich, Merle (2023): Jugend, sozialer Wandel und Transnationalisierung. Der Möglichkeitsraum als Analyseperspektive für Jugend in ihren Sozialisationsbedingungen. In: C. Scheid/M. Silkenbeumer/B. Zizek/L. Zizek [Hrsg.]: Sozialisationstheorie und -forschung revisited. Ein Paradigma im Lichte der neuen Kindheits- und Jugendforschung. Wiesbaden: Springer, S. 79-98.
King, Vera (2. Aufl., 2013): Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Individuation, Generativität und Geschlecht in modernisierten Gesellschaften. Wiesbaden: Springer VS.
King, Vera (2022): Zur Psychoanalyse des Sozialen mit Pierre Bourdieu. Gießen: Psychosozial.
Rieger-Ladich, Markus (2022): Das Privileg. Kampfvokabel und Erkenntnisinstrument. Ditzingen: Reclam.
Rieger-Ladich, Markus/Grabau, Christian [Hrsg.] (2017): Pierre Bourdieu. Pädagogische Lektüren. Wiesbaden: Springer VS.
Schleiffer, Roland (2013): Verhaltensstörungen. Sinn und Funktion. Heidelberg: Carl-Auer.