Aufklärung statt Aktivismus. Zu den Herausforderungen geistes- und kulturwissenschaftlicher Diversitätsforschung
Mein Zugang zu Diversität V
Kulturkrieg im Westen
Was hat ein tragischer Flugzeugabsturz, bei dem 67 Menschen ums Leben kamen, mit Diversität zu tun? Als es in der Nacht zum 29. Januar 2025 in Washington zu einem fatalen Zusammenstoß eines Linienflugzeugs mit einem Militärhubschrauber kam, wartete man am nächsten Tag vergeblich auf die üblichen Beileidsbekundungen aus dem Weißen Haus. Stattdessen nutzte der frisch wiedergewählte US-Präsidenten Donald Trump, dessen zweite Amtseinführung am Tag des Unglücks gerade mal neun Tage zurücklag, den Vorfall für eine persönliche Abrechnungmit seinen beiden Vorgängern: Es seien die Diversitätsprogramme der Obama- und Biden-Administration gewesen, die den Unfall herbeigeführt hätten. Man rieb sich verdutzt die Augen und fragte sich, wo denn da der Zusammenhang zu finden sei. Trump meinte, dass die Federal Aviation Administration (FAA) unter Obama und Biden mit ihren Diversitätsgeboten die Qualitätsstandards stark verwässert habe: „The FAA diversity push includes focus on hiring people with severe intellectual and psychiatric disabilities. That is amazing.“ Und weiter: „They include hearing, vision, missing extremities, partial paralysis, complete paralysis, epilepsy, severe intellectual disability, psychiatric disability and dwarfism.“ Von einem Journalisten nach Evidenz gefragt, antwortete Trump: „It just could have been.“ Fox-News-ModeratorJesse Watters erweiterte am 31. Januar zur Primetime noch den Kreis der vermeintlich Verantwortlichen: „people who are deaf to get jobs, people who are dwarves to get jobs, people with transgender issues to get jobs.“
Auch wenn Politiker, Journalisten und Luftfahrtexperten in der Folge darum bemüht waren, diese Anschuldigungen als gefährlichen und unhaltbaren Verschwörungsmythos zu enttarnen, war Trumps Erklärung jedoch längst in der Welt und wurde millionenfach geteilt. Für seine Anhänger steht nun spätestens fest: Die staatlichen Diversity- bzw. D.E.I.-Programme („diversity, equity & inclusion“) sind Teufelszeug und gefährden sogar Menschenleben. Dieser Fall ist bisher zweifelsohne eines der krassesten Beispiele dafür, wie schamlos die MAGA-Ideologie unter Trump einen Kreuzzug gegen alles führt, was im weitesten Sinne mit Diversität, Identitätspolitik, Antidiskriminierung und so genannter Wokeness zu tun hat. Uns als Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen muss vor allem die Tatsache Sorge bereiten, dass auch die US-amerikanischen Universitäten aus ganz ähnlichen Gründen zur Zielscheibe der Trump-Regierung geworden sind. Förderanträge für Forschungsprojekte, in denen Wörter wie Diversität, Diskriminierung oder auch nur „female“ auftauchen, haben keine Chance mehr auf staatliche Förderung. Auch auf offiziellen Webseiten der Regierung dürfen sie laut Verordnung nicht mehr auftauchen (hier ein Überblick über die „banned words“). Der Historiker und USA-Experte Volker Depkat sprach kürzlich im Podcast „Politik mit Anne Will“ davon, dass die Konservativen unter Trump regelrecht an der Vielfalt „leiden“ und dass aus diesem Leiden eine „Homogenitätsfiktion bzw. ein Homogenitätsverlangen“ hervorgehe, das die jahrelange „Knechtschaft“ der woken, linksliberalen Diskurshoheit möglichst beenden solle (Quelle). Trotz Depkats richtigen Beobachtungen scheint mir das Verb „leiden“ in diesem Zusammenhang etwas zu schwach. Wenn man gefühlt jeden Tag in den Nachrichten darauf stößt, wie die ICE-Einwanderungsbehörde unter Trump vermeintlich illegale Immigranten aus ihren Wohnungen zerrt, um sie abzuschieben, dann scheint es sich eher um einen Krieg gegen die Vielfalt in der Bevölkerung zu handeln. Die alles entscheidende Frage muss daher lauten: Warum lösen Vielfalt, Gleichheit und Inklusion innerhalb von Trumps MAGA-Universum – wie in allen autoritär geführten Staaten – solche aggressiven Abwehrmechanismen aus?
Diversität: zwischen deskriptiv und normativ
Wirft man einen Blick in die Begriffsgeschichte, stellt man überrascht fest, dass es sich bei „Diversität“ zunächst um einen Terminus aus der Biologie handelt. Demzufolge etablierte sich der Begriff im Anschluss an die Darwin’sche Evolutionstheorie im Sinne von „Biodiversität“, wie Georg Toepfer klarstellt: „Darwin zufolge gibt es nicht nur ein Ziel historischer Entwicklungen, sondern viele nebeneinanderstehende: Nicht in erster Linie der Mensch, sondern Diversität sei das Ergebnis der Evolution – und darüber hinaus auch der Ausgangspunkt aller Veränderungen, weil Evolution auf dem Prozess der differenziellen Reproduktion unterschiedlicher Formen beruhe“ (Toepfer 2020: 134). Verkürzt dargestellt hat sich der Diversitätsgedanke, der aus biologischer Sicht positiv besetzt war, im Folgenden im Kontext ökologischer Forschungen zu den Auswirkungen der Industrialisierung ab der Mitte des 20. Jahrhunderts zu einem erhaltenswerten Ziel entwickelt, d. h. aus dem ursprünglich deskriptiven Begriff wurde nach und nach eine normative Forderung. Wie Toepfer weiter ausführt, habe der Terminus jenseits der Biologie lange Zeit keine allzu große Rolle gespielt (vgl. ebd.: 138). Es waren erst die sozialen Emanzipationsbewegungen der 1970er Jahre – etwa die zweite Welle des Feminismus, die Schwulenbewegung oder der Kampf um Zulassung an US-amerikanischen Universitäten –, die den Begriff immer häufiger im Sinne einer Forderung nach Diversität in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen ins kollektive Bewusstsein des Westens rückten und für entsprechende Semantisierungen sorgten. Es liegt demnach ganz offenkundig an diesem doppelten Charakter des Begriffs – also deskriptiv und normativ –, dass Diversität einerseits schwer zu definieren ist und dass Diversität andererseits dazu imstande ist, starke Emotionen hervorzurufen, wie wir es augenblicklich vor allem in autokratischen Systemen beobachten können. Ein häufig zitierter Satz stammt von dem Journalisten Kelefa Sanneh, der in einem Artikel zu den Grenzen von Diversität folgendes feststellt: „diversity, a quality that just about everyone can love, not least because no one can define it.“ (Sanneh 2017) Mit „love“ nimmt Sanneh einmal mehr Bezug auf das affektive Potenzial und mit „no one can define“ auf die daraus resultierende Schwierigkeit, ihn definitorisch-analytisch einzugrenzen. Letzteres liegt auch daran, dass es sich bei ‚Diversität‘ um einen Querschnittsbegriff handelt, einen umbrella term, der sich in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und gesellschaftlichen Handlungsfeldern etabliert hat.
Diversität in den Geisteswissenschaften
Als Literatur- und Filmwissenschaftler verorte ich mich per definitionem in den Geisteswissenschaften. Ich untersuche grob gesagt Artefakte, also (meist) literarische Texte und Spiel- oder Dokumentarfilme – man könnte auch den inzwischen ubiquitären Begriff des Narrativs anführen. Das heißt, ich untersuche Narrative und tue das auf zwei verschiedenen Ebenen: Ich schaue mir erstens an, was erzählt wird und analysiere zweitens, wie das Erzählte künstlerisch-ästhetisch vermittelt wird. Für den Kontext eines Forschungsverbunds zum Thema „Diversität“ bedeutet das, dass ich mich dem Thema der Vielfalt aus zwei Richtungen nähere, ja nähern muss. Ich stelle mir zunächst die Frage, welche Aspekte von Diversität auf der Ebene der Erzählung eine Rolle spielen. Hier liegt es nahe, sich zuallererst die handelnden Figuren näher anzuschauen: In welchem Milieu sind sie aufgewachsen? Welche geschlechtliche Zuordnung haben sie? Welche Hautfarbe? Sind sie körperlich oder psychisch beeinträchtigt? Wie alt sind sie? Anhand der Figurenanalyse entsteht zunächst eine rein deskriptive Kartographie der sozialen Unterschiede, basierend auf intersektionalen Vermessungen sozialer Ungleichheitskategorien. In einem zweiten Schritt wäre nach der Handlungsmacht, d.h. der Agency der Akteure und Akteurinnen zu fragen: Welche Hindernisse werden ihnen von institutioneller oder gesellschaftlicher Seite in den Weg gelegt? Wie gehen sie damit um? Wie kann aus prekärer und umkämpfter Teilhabe eine stabile Form der Partizipation werden? In einem dritten Schritt überschreite ich erstmals den Rahmen der Geschichte – in der Literaturwissenschaft Diegese genannt – und gleiche das Erzählte mit dem jeweiligen historischen Kontext ab. Ich frage also nach den Entstehungsbedingungen des Erzählten und suche gleichzeitig in den Narrativen nach affirmativen oder subversiven Strategien im Kampf der Figuren um soziale Teilhabe. Da ich mich insbesondere für zeitgenössisches Arthouse-Kino interessiere, frage ich zuletzt danach, inwieweit die Filme (bzw. die Künste im Allgemeinen) einen Beitrag leisten können, um für soziale Ungleichheiten zu sensibilisieren, ja, ob es sich bei den Artefakten um sozialengagierte Kunst handelt, die dazu imstande ist, den gängigen Diskursen über mangelnde Chancengleichheit in der heutigen Gesellschaft ein widerständiges Gegen-Narrativ entgegenzusetzen.
So viel zum Inhaltlichen. Schwieriger wird es auf der formalen Ebene. Um es am Beispiel des Mediums Film, das sich bekanntlich aus einer Bild- und Tonspur zusammensetzt, zu veranschaulichen, wäre hier zu fragen nach den ästhetischen Strategien, wie Diversität und Teilhabe in Szene gesetzt werden. Ich habe mich bewusst für das definitorisch recht diffuse Arthouse-Segment entschieden, um ein möglichst breit gefächertes Spektrum audiovisueller Ausdrucksformen zu gewährleisten, das sich – vereinfacht gesagt – über die gängigen Konventionen des klassischen Erzählkinos hinwegsetzt oder zumindest damit spielt. Arthouse-Filme liegen in der Regel abseits des Mainstreams und weisen oft ein höheres Maß an künstlerischer Freiheit auf, indem sie auf experimentelle oder ungewöhnliche Arten des Storytellings bzw. der Mise-en-Scène setzen. Zu sagen, dass es sich bei Arthouse um eine Anti-Hollywood-Bewegung handelt, geht zwar in die richtige Richtung, bleibt jedoch im Kern zu grobmaschig, da sich nicht jeder Hollywood-Film blind den gängigen Mainstream-Konventionen (unsichtbarer Schnitt, Schuss-Gegenschuss, musikalische Untermalung, establishing shots, etc.) unterwirft. Im Zusammenhang von Diversität wäre also zu überprüfen, ob sich die in der Diegese gezeigte und erzählte Vielfalt auch in der Machart des Films widerspiegelt. Welche Kameraeinstellungen werden bemüht, um verwehrte oder gewährte Teilhabezu visualisieren? Wie wirken sich Schnitt und Montage auf die Charakterisierung der Figuren aus? Wird an Originalschauplätzen gedreht? Welche Art von Musik kommt zum Einsatz (extra- oder intradiegetisch)? Welche filmischen Experimente haben welchen Effekt auf die Rezeption?
Diversität, Wokeness und die Fähigkeit zur Selbstreflexion
Das eingangs beschriebene Unbehagen konservativer Regierungen an Forderungen gesellschaftlicher Diversität verdankt sich, wie bereits skizziert, vor allem der Tatsache, dass dem Diskurs über Diversität immer auch ein aktivistischer Impetus innewohnt und natürlich auch der Beobachtung, dass solche Forderungen meist von linksliberaler Seite vorgebracht werden. Diesem Vorwurf des Aktivismus müssen sich vermehrt auch Forschende stellen, die sich dem Diversity-Thema verschrieben haben, seien sie aus dem Feld der Gender, Queer oder Postcolonial Studies, der Intersektionalitäts- oder Migrationsforschung. Der Vorwurf ist immer derselbe: Im Kern seien diese Forschungen aktivistisch und daher unwissenschaftlich. Vieles wird dabei in einen Topf geworfen, so Gender Studies und Gendern, Critical Whiteness Studies und Rassismus gegen Weiße, Postcolonial Studies und die einseitige Abwehr und Abwertung westlicher Kultur. Das Schlagwort, unter dem all das zusammengeführt wird, lautet Wokeness, das erklärte Feindbild der Konservativen, das nicht selten im selben Atemzug genannt wird wie Diversity. Wokeness spalte die Gesellschaft, Wokeness komme immer mit dem erhobenen Zeigefinger daher, Wokeness sei ein linkes Elitenprojekt, Wokeness sei reine Ideologie. Man kann das alles als reaktionären Kulturkrieg vom Tisch wischen oder argumentieren, dass es doch nichts schaden könne, wenn man wach oder aware sei. Als Forschender gehört es aber auch zu meinen Aufgaben, es mir nicht zu leicht machen und mich immer wieder mit Bezug auf meine Forschungen zu fragen: Cui bono? Selbstreflexion und Selbstkritik haben noch nie geschadet – insbesondere dann, wenn mehr auf dem Spiel steht als nur Angriffe gegen vereinzelte Forschungsfelder, sondern letzten Endes die Wissenschaftsfreiheit. Ich empfehle in diesem Zusammenhang den Essay After Woke (2024) des ZEIT-Journalisten Jens Balzer, der ganz sicher nicht unter Verdacht steht, sich für gewöhnlich in rechtskonservativen Fahrwassern zu bewegen. Balzer nimmt die antisemitischen Entgleisungen des linksliberalen Milieus nach den Attentaten des 7. Oktobers zum Anlass für eine kritische Selbstbefragung. In den Fokus geraten insbesondere die moralisierenden Auswüchse der Vertreter und Vertreterinnen der Postcolonial Studies sowie des Queerfeminismus. Beide Richtungen hält er grundsätzlich für notwendige Korrekturen innerhalb des geistes- und sozialwissenschaftlichen Feldes, aberdennoch attestiert er ihnen eine neue Form des Schwarz-Weiß-Denkens, das siche inem allzu einseitigen Aktivismus verdanke:
„EineBewegung, die sich den Slogan ‚stay woke‘ auf die T-Shirts,Demonstrationsschilder und Fahnen schreibt und also behauptet, gegenüberjeglicher Diskriminierung wachsam zu sein und für die Teilhabe marginalisierterGruppen am öffentlichen Diskurs einzutreten, dann aber jüdische Menschen vondieser Teilhabe ebenso explizit ausschließt wie sie ihnen die Solidaritätverweigert – eine solche Bewegung zeigt nicht nur einen Zug ins Bigotte,sondern hat auch etwas verloren, das mir für eine positive Bestimmung des‚woke‘-Begriffs entscheidend zu sein scheint: die Bereitschaft und dieFähigkeit zur Selbstreflexion, zur Selbstbefragung darauf, ob der eigene Blickauf die Welt diese in ihrer Komplexität zu erfassen vermag oder ob man nicht anmanchen Stellen selber wieder auf das einfache Thema aus Schwarz und Weißverfällt, das man doch eigentlich angetreten war zu überwinden.“ (S. 38f.)
Dieser Gefahr der fälschlichen moralischen Selbsterhöhung aus dem Wege zu gehen, sollte eines der Kernanliegen der materialgestützten Diversitätsforschung sein. Da schon allein die Wahl des Forschungsthemas gesellschaftspolitisch aufgeladen ist, sollte nicht noch der wissenschaftliche Zugang die Tür für einen einseitigen Aktivismus öffnen. Ich untersuche die Filme, die mich interessieren, hinsichtlich der in ihnen vermittelten Repräsentation von Diversität nach dem weiter oben beschriebenen Analyseraster. Die solcherart gewonnenen Erkenntnisse über marginalisierte oder deprivilegierte Figuren verleiten natürlich dazu, aus ihnen ganze Kataloge an Manifesten für eine bessere Welt abzuleiten. Es erscheint mir jedoch sinnvoller – und da verorte ich mich in der Tradition des frühen Pierre Bourdieu –, die Ursachen sozialer Ungleichheit und damit eines Mangels an Diversität präzise am Material herauszuarbeiten, was ich auf di efolgende Formel bringen würde: Aufklärung statt Aktivismus. Mir geht es mithin darum, mit meinen Forschungen eine Sensibilisierung herbeizuführen, um auf diese Weise den Fallstricken der reinen Identitätspolitik aus dem Weg zu gehen. Für mich stellt eine ‚bubblegetriebene‘ Form solcher Identitätspolitik das Gegenteil von Diversität dar, da sie im Grunde reduktionistisch mit dem Fokusauf einzelne soziale Gruppierungen vorgeht und so leicht Gefahr läuft, die Fähigkeit zur Selbstreflexion im Abgleich mit anderen Interessen zu verlieren. Daher möchte ich meine Überlegungen zum wissenschaftlichen Umgang mit Diversität mit einem weiteren Zitat von Jens Balzer beenden, mit dem er auch seinen Essay abschließt:
„Würde die Identitätspolitik sich wieder darauf besinnen, dass sie in jedem Moment des Aktivismus, der Wissenschaft oder der Politik das Konzept und die Ideologie der Identität als solche zum Thema der kritischen Reflexion macht – dann könnte sie wieder zu einem dringend benötigten (utopischen) Gegenentwurf werden zu den reaktionären Kräften des identitären Denkens, die sich gerade anschicken, die Herrschaft über die Welt zu übernehmen.“ (S. 90)
Bibliografie
Jens Balzer (2024): After Woke, Berlin: Matthes & Seitz.
Kelefah Sanneh (2017): „The Limits of ‚Diversity‘”, in: The New Yorker, online unter: https://www.newyorker.com/magazine/2017/10/09/the-limits-of-diversity
Georg Toepfer (2020): „Diversität. Historische Perspektiven auf einen Schlüsselbegriff der Gegenwart“, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 17, 130-144.