Diversität und Luxus. Eine kultur- und wissenssoziologische Perspektive

Mein Zugang zu Diversität VI

 Seit der Wende zum 21. Jahrhundert etablieren sich zahlreiche moralisch und ethisch positiv besetzte, alltagsweltliche wie auch sozialwissenschaftliche Kategorien zur Anerkennung und Wertschätzung bzw. zur Beobachtung und Beschreibung von sozialen Unterschieden und Ungleichheiten als Erscheinungsformen kultureller Vielfalt und Verschiedenheit. Hybridität (Bhabha 2012), Pluralität (Soeffner/Boldt 2010), Intersektionalität (Winkler/Degele 2010, Hesset al. 2011) und Diversität (Vertovec 2007, 2012) dienten zunächst in den Kontexten der Forschung zu Migration (Nieswand 2021), Stadtentwicklung (Wanjiku Kihato et al. 2010) und Transnationalisierung (Pries 2010, 2012), dann aber auch in öffentlichen Debatten um Geschlechterquoten, um nicht-heterosexuelle Lebensgemeinschaften oder um das Selbstbestimmungsrecht von nicht-binären Personen, als begrifflich-konzeptionelle Gegenpole zu Rassismus, Sexismus und Diskriminierung, zu Aneignung, Abwertung und Ausgrenzung (Hirschauer 2017, Nassehi 2017).

Damit wohnt insbesondere letzteren, wie auch immer definierten Begriffen und Konzepten ein aktivistischer, sozialreformerischer Impetus inne, der auf die politische Transformation bestehender Normierungen und Wertvorstellungen oder Macht- und Herrschaftsverhältnisse zielt (Brubaker 2015, Dilger/Warstatt 2021).

Um jedoch sozialwissenschaftliche Tiefenstrukturen des Strukturwandels von Sozialität identifizieren zu können, stellt die im Teilprojekt „Jenseits klassischer Diversität? Themenbezogenen Identitätspraktiken und gesellschaftliche Fragmentierungstendenzen am Beispiel von Luxus“ verfolgte kultur- und wissenssoziologische Forschungsperspektive die einfache Adaption von Begrifflichkeiten und Konzepten zugunsten einer Sichtweise zurück, die Diversifizierungs- und Homogenisierungsprozesse in ihren komplexenZusammenhängen, insbesondere in ihren Spannungsverhältnissen ganz grundlegend in ihren Transformationsdynamiken erfasst. Entsprechend gilt es, die Grenzziehungsarbeiten und Aushandlungsprozesse von sozialen Gruppen zwischen Gemeinsamkeitsanzeigen und Kooperationsoptionen einerseits und sozialen Differenzmarkierungen, Antagonismen und Konflikten andererseits zu untersuchen und zu beschreiben.

Die angesprochenen Spannungsverhältnisse und Transformationsdynamiken lassen sich in spätmodernen Gesellschaften mit ‚klassischen‘ Klassifikationen wie Klasse, Geschlecht, Religion, Bildung, Alter oder ethnische Herkunft nurmehr schwerlich empirisch und theoretisch fassen. Vielmehr sind es Orte, Objekte und Ereignisse und vor allem Ideen, Themen und Meinungen – bspw. zu Klimawandel, Wokeness, Migration, Geschlechtsidentität und Transsexualität, Schutzimpfungen, Veganismus, Nachhaltigkeit und nicht zuletzt Luxus – sowie nicht zuletzt Kollektive und Subjekte, die an diskursiver Präsenzgewinnen, die ein hohes Maß an gesellschaftlichem Konflikt- und Fragmentierungspotential bergen, und die soziale Praktiken und soziale Identitätskonstruktionen unter starken Legitimations- und Anpassungsdruck setzen (Mau et al. 2023).

Vor diesem Hintergrund konstatiert die soziologische Zeitdiagnose von der Singularisierung des Subjekts eine zusehende Proliferation ästhetischer Praktiken und Wahrnehmungen als sozio-kulturelle Existenzanforderung für Subjekte und Kollektive (Reckwitz 2017). Im Zuge dieses Transformationsprozesses erheben sich die Subjekte zum Zentrum ihrer Aufmerksamkeit und Wahrnehmung und entwerfen sich als besondere, einzigartige, ‚luxurierende Projekte‘ (Sloterdijk 2004: 671-747), denen sie höchsten Wert verleihen und höchste Anziehungskraft beimessen, und für die sie von sozialen Anderen größte Bewunderung, Wertschätzung und Akzeptanz erwarten.

Zwei Aspekte sind dabei für den Zusammenhang von Diversität und Luxus von herausgehobenem kultur- und wissenssoziologischem Interesse. Zum einen die Frage, wie sich Subjekte ihr Wissen über Luxus als Differenzierungsmoment und Diversitätskategorie aneignen und absichern: Wie verlaufen die Aushandlungsprozesse und welches sind die Kommunikations- und Repräsentationsformen über das Normalspektrum und die damit gegebenen Handlungsoptionen des Luxurierens? Zum anderen die eng damit verbundene und gleichfalls nur empirisch zu beantwortende Frage, was geschieht, wenn diese Normalitätsvorstellung mit ihren Handlungsorientierungen fragil wird und das luxurierende Projekt mit der Stagnation oder gar der Subtraktion seiner Möglichkeiten konfrontiert ist: Welches sind die Anlässe und Themen, die Zeiten und Orte, die Situationen und Personen der Aushandlung? Wo verlaufen die Konfrontationslinien? Welche Argumente – vor allem jenseits der klassischen, weil stets naheliegenden und alle anderen Begründungen und Legitimationen in der Regel ‚todschlagenden‘, rein zweckrationalen Handlungsmotive – werden für das Aufrechterhalten oder Absenken der Schwelle zum Überflüssigen in Anschlag gebracht?

 

Literatur

 

Bhabha, Homi K. 2012. Über kulturelle Hybridität: Tradition und Übersetzung. Wien/Berlin.

Brubaker, Roger (2015): Grounds for Difference. Cambridge.

Dilger, Hansjörg / Warstatt, Mattthias (eds.) (2021): Umkämpfte Vielfalt: Affektive Dynamiken institutioneller Diversifizierung. Frankfurt am Main u.a.

Hess, Sabine / Langreiter, Nikola / Timm, Elisabeth (Hrsg.) (2011): Intersektionalität revisited. Empirische, theoretische und methodische Erkundungen. Bielefeld.

Hirschauer, Stefan (2017): Humandifferenzierung. Modi und Grade sozialer Zugehörigkeit, in: Hirschauer, Stefan (Hrsg.): Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung. Weilerswist: 29–54.

Jaquet,Chantal (2023) [2014]: Transclasses. A Theory of Social Non-Reproduction. Brooklyn / London.

Mau, Steffen / Lux, Thomas / Westerheuser, Linus (2023): Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Berlin.

Nassehi, Armin (2017): Humandifferenzierung und gesellschaftliche Differenzierung: Eine Verhältnisbestimmung, in: Hirschauer, Stefan (Hrsg.): Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung. Weilerswist: 55–78.

Nieswand, Boris (2024): Die Diversität der Diversitätsdiskussion, in: Röder, Antje / Zifonun, Dariuš (Hrsg.) (2024): Handbuch Migrationssoziologie. Wiesbaden: 419-444.

Pries, Ludger (2010) Transnationalisierung – Theorie und Empirie grenzüberschreitender Vergesellschaftung. Wiesbaden.

Pries, Ludger (Hrsg.) (2012): Zusammenhalt durch Vielfalt? Bindungskräfte der Vergesellschaftung im 21. Jahrhundert. Wiesbaden.

Reckwitz, Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin.

Sloterdijk, Peter (2004): Plurale Sphärologie – Band III: Schäume. Frankfurt am Main.

Soeffner, Hans-Georg / Bold, Thea D. (Hrsg.) (2014): Fragiler Pluralismus. Wiesbaden.

Vertovec,Steven (2007): Super-diversity and its implications. In: Ethnic and Racial Studies 30, 1024–1054.

Vertovec, Steven (2012): ‘Diversity’ and the Social Imaginary. In: European Journal ofSociology 53 (3), 287–312.

Wanjiku Kihato, Caroline / Massoumi, Mejgan / Ruble, Blair A. / Subirós, Pep / Garland, Alison M. (eds.) (2010): Urban Diversity. Space, Culture, and Inclusive Pluralism in Cities Worldwide. Baltimore.

Winkler, Gabriele / Degele, Nina (Hrsg.) (2010): Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld.