Unser Zugang zu Diversität I (Bastian/Posmek)

Unser Zugang zu Diversität

Wir nähern uns dem Konzept Diversität aus einer praxeologischen, relationalen und machtkritischen Perspektive.

Dies bedeutet erstens, dass wir davon ausgehen, dass Menschen im Zuge sozialer Praktiken differenziert und kategorisiert werden. Aufgrund bestimmter, sozial wirkmächtiger Merkmale werden ihnen bestimmte Zugehörigkeiten zu Gruppen zugeschrieben, die sich im intersektionalen Sinne auch überlagern können. Diese Differenzierung- und Kategorisierungsweisen betrachten wir als komplex, prozesshaft und kontingent. Sie (re)produzieren sich in der konkreten, situativen Vollzugspraxis bzw. in sozialen Interaktionen(vgl. Hirschauer, 2014; Reckwitz, 2003). Das heißt, dass Differenzierungspraktiken einerseits über Strukturen und Normen aufrechterhalten bzw. verstetigt werden, indem auf diese zurückgegriffen und diese durch Wiederholungen und Routinen verfestigt werden. Andererseits sind sie auch veränderbar, da sie immer wieder aktualisiert werden und sich somit auch Veränderungen oder Brüche einschleichen können (vgl. Alkemeyer, 2013, p. 67 f.; Butler, 1990/2020; Reckwitz, 2003, p. 294). Durch den praxeologischen Zugang kann die Gleichzeitigkeit von Beständigkeit und Veränderbarkeit von sozialen Zuschreibungen in den Blick gebracht werden. Hierfür ist methodisch aus unserer Perspektive eine ethnographische Forschungshaltung der Befremdung (vgl. Amann & Hirschauer, 1997) hilfreich. Sie ermöglicht es, implizites Wissen, d.h. das „Wie“ der Herstellung von Ungleichheiten und Kategorisierungen, zu analysieren und zu rekonstruieren (vgl. Breidenstein et al., 2015).

Dabei legen wir zweitens, inspiriert durch Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie (vgl. Latour, 2017), den Fokus auf die Verknüpfungen von menschlichen und nicht-menschlichen Akteur*innen in sozialen Situationen und fragen danach, wie diese spezifischen Verbindungen dazu beitragen, dass soziale Unterscheidungen vollzogen werden. Im Sinne einer Dezentrierung des Subjekts geht es uns darum, den Fokus nicht nur auf Individuen und ihre Handlungen zu legen, sondern diese als Teile von Netzwerken zu betrachten, in denen auch nicht-menschliche Akteure handlungsfähig sind. Auch wenn Kritiker*innen durchaus anmerken, dass durch den Fokus auf die Akteur*innen und ihre Verflechtungen komplexe Differenzierungspraktiken nicht hinreichend dargestellt werden (z.B. Star, 1990), zeigt eine Reihe empirischer Arbeiten (z.B. in Bezug auf Gender: Ashman et al., 2022; Hunter & Swan, 2007 und auf Ethnizität: Fraser et al. 2022; Green, et al. 2018), dass die ANT durchaus geeignet ist, Differenzierungspraktiken und Diversität zu untersuchen und strukturelleBedingungen und deren Verflechtungen von Kategorien aufzudecken. Hilfreich scheint hierfür die Verbindung des ANT-Ansatzes mit dem Diskursbegriff von Michel Foucault (1991), ein Ansatz der vor allem von JohnLaw (2013) verfolgt wird.

Alkemeyer, T. (2013). Subjektivierung insozialen Praktiken. In T. Alkemeyer, G. Budde, & D. Freist (Eds.), Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung (S. 33–68). transcript. https://doi.org/10.14361/transcript.9783839419922.toc

Amann, K., & Hirschauer, S. (1997). Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm. In S. Hirschauer & K. Amann(Hrsg.), Die Befremdung der eigenen Kultur: Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie (S. 7–52). Suhrkamp.

Ashman, R., Radcliffe, L., Patterson, A., & Gatrell, C. (2022). Re‐ordering Motherhood and Employment: Mobilizing ‘Mums Everywhere’ during Covid‐19. BritishJournal of Management, 33(3), 1125-1143. doi: 10.1111/1467-8551.12630

Breidenstein, G., Hirschauer, S., Kalthoff, H., & Nieswand, B. (2015). Ethnografie: Die Praxis der Feldforschung (2., überarbeitete Auflage). UVK Verlag.

Butler, J. (2019). Körper von Gewicht: Die diskursiven Grenzen des Geschlechts (K. Wördemann, Trans.; 10. Auflage). Suhrkamp.

Butler, J. (2020). Das Unbehagen derGeschlechter (K. Menke, Trans.; 21. Auflage). Suhrkamp.

Foucault, M. (1991). Die Ordnung des Diskurses. Fischer.

Foucault, M. (2019). Subjekt und Macht. In D. Defert, F. Ewald, & J. Lagrange (Hrsg.), Analytik der Macht (8. Auflage, S. 240–263). Suhrkamp.

Fraser, S. L., Gaulin, D., Loutfi, D., & Nadeau, L. (2022). Collaboration in Mental Healthcare for Indigenous Children and Youth: Using Actor-Network Analyses to Better Understand Dynamics, Strengths, and Ongoing Challenges in Collaboration. International Journal of Mental Health and Addiction, 22(3), 1546-1567. doi: 10.1007/s11469-022-00942-7

Gildemeister, R.(2008). Soziale Konstruktion von Geschlecht: „Doing gender“. In S. M. Wilz (Hrsg.), Geschlechterdifferenzen—Geschlechterdifferenzierungen (pp. 167–198). VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90831-1_6

Green, A. M., Brand, B.R., & Glasson, G. E. (2018). Applying actor–network theory to identifyfactors contributing to nonpersistence of African American students in STEMmajors. Science Education, 103(2), 241-263.doi: 10.1002/sce.21487

Hirschauer, S. (2014). Un/doing Differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten. Zeitschrift Für Soziologie, 43(3), 170–191.

Hunter, S., & Swan, E.(2007). Oscillating politics and shifting agencies: equalities and diversitywork and actor network theory. Equal Opportunities International, 26(5), 402-419. doi:10.1108/02610150710756621

Latour, B. (2017). Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft: Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie (G.Roßler, Trans.; 4. Auflage). Suhrkamp.

Law, J. (1993). Organising modernity: Social ordering and social theory. John Wiley & Sons.

Law, J. (2013). Akteur-Netzwerk-Theorie und materiale Semiotik. In T. Conradi, H. Derwanz & F. Muhle (Hrsg.), Strukturentstehung durch Verflechtung. Akteur-Netzwerk-Theorie(n) und Automatismen. Fink.

Reckwitz, A. (2003). Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken / Basic Elements of a Theory of Social Practices. Zeitschrift Für Soziologie, 32(4), 282–301. https://doi.org/10.1515/zfsoz-2003-0401

Scherr, A., El-Mafaalani, A., & Yüksel, G.(2017). Einleitung: Interdisziplinäre Diskriminierungsforschung. In A. Scherr, A. El-Mafaalani, & G. Yüksel (Hrsg.), Handbuch Diskriminierung(v–x). Springer VS.

Star, S. L. (1990). Power, Technology and the Phenomenology of Conventions: On being Allergic to Onions. The Sociological Review, 38(1), 26-56.doi: 10.1111/j.1467-954X.1990.tb03347.x