Wer über Diversität spricht, darf über Fremdheit nicht schweigen.
Erstens: divers und doch ungleich-verschieden.
Am 1. Juli 1993 hält der Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei der Eröffnungsveranstaltung der Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte seine Ansprache, mit dem viel zitierten Satz:
„Es ist normal, verschieden zu sein“. (Weizsäcker 1993, S. 1)
Und er führt weiter aus: „Es gibt keine Norm für das Menschsein. Manche Menschen sind blind oder taub, andere haben Lernschwierigkeiten, eine geistige oder körperliche Behinderung - aber es gibt auch Menschen ohne Humor, ewige Pessimisten, unsoziale oder sogar gewalttätige Männer und Frauen. Dass Behinderung nur als Verschiedenheit aufgefasst wird, das ist ein Ziel, um das es uns gehen muss. In der Wirklichkeit freilich ist Behinderung nach wie vor die Art von Verschiedenheit, die benachteiligt, ja die bestraft wird“ (ebd.).
Im selben Jahr erscheint die ebenfalls vielzitierte Erstauflage von Annedore Prengels „Pädagogik der Vielfalt“ (Prengel 1993) mit ihrer „Denkfigur der egalitären Differenz als pädagogische Orientierung bzw. Gestaltungsauftrag“ (Walgenbach 2021, S. 42).
In diesen Beispielen reflektiert sich, dass zentrale Perspektiven und Forderungen der (sonderpädagogischen) Normalisierungs- und Gerechtigkeitsbewegung, die bereits in den 1950er und 1960er Jahren insbesondere von Bank-Mikkelsen, Bengt Nirje und Wolf Wolfensbeger theoretisiert und politisiert wurden, in den 1990er Jahren ihren Weg aus einer sonderpädagogischen Nische herausfinden. Dabei wird die Egalität der Differenz systematisch mit der Egalität der Menschenrechte verknüpft. Und dieser Prozess nimmt weiter Fahrt auf:
„Seit der Jahrtausendwende haben Termini wie Vielfalt, Heterogenität, Diversität, Diversity oder Intersektionalität in der Erziehungswissenschaft Konjunktur“ (ebd., S. 41). Dabei sollen diese Termini auch dabei helfen, das Ziel umzusetzen, dass Behinderung nur als Verschiedenheit aufgefasst und normalisiert wird. Und ja, in der vollen Breite erziehungswissenschaftlicher Diskurse ist es inzwischen wirklich normal, verschieden zu sein, aber:
„In der Wirklichkeit freilich ist Behinderung nach wie vor die Art von Verschiedenheit, die benachteiligt, ja die bestraft wird“ (Weizsäcker 1993, S. 1).
Das kann auch durch die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention nicht aufgelöst werden, konstatiert Andreas Fröhlich 2025:
„Wir zitieren sie, und wir legitimieren damit unsere Argumente, wenn es um die Rechte behinderter Menschen geht. Doch in ihr werden Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen gar nicht erwähnt. Die Konvention nennt zwar durchaus einzelne Gruppen mit spezifischen Bedürfnissen, zum Beispiel blinde und sehbehinderte Menschen – sehr schwer beeinträchtigte Menschen mit ihren sehr besonderen Bedürfnissen finden darin hingegen keine Erwähnung. Vieles von dem, was die Konvention fordert, geht leider an der Lebenswirklichkeit gerade dieser Menschen vorbei“ (Fröhlich 2025, S. 53).
Behinderung wird in Wirklichkeit nach wie vor bestraft: durchs Vergessen bestimmter Menschen mit Behinderung, im Sinne Fröhlichs, aber auch durch sinnlich-konkrete Demütigungen in sozialen Interaktionen, wie bspw. Trescher sie empirisch sichtbar machen kann (Trescher 2012). Der bekannte Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit, Raúl Krauthausen, bringt die ungebrochene Fortsetzung der Produktion von Benachteiligung und Bestrafung von ungleich-Verschiedenen so auf den Punkt: „Von Diversität wird viel gesprochen. Diversität ist toll. Aber auch in diesem Rosa-Einhorn-Land gibt es Hierarchien. Ratet mal, wer die letzten sind“ (2025, S. 1).
In meiner Forschung beschäftigt mich das:
Während es normal sein soll, verschieden zu sein und es rechtlich verbrieft ist, dass alle die gleichen Rechte haben, werden in der Wirklichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse, bestimmte Gruppen und Menschen nach wie vor unterschiedlich verschieden gemacht, benachteiligt und bestraft. Insbesondere Menschen mit (schwerer) Behinderung.
Mich beschäftigen diese Konstruktionen von Ungleichheit, die Bestrafung in der Wirklichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse und ihre Resistenz gegenüber vermeintlich verbindenden und damit schützenden Begriffen (wie Diversität), politischen Bekenntnissen und Rechtsnormen – wie in der UN-Behindertenrechtskonvention.
Zweitens: Diversität und die Produktion der Ungleich-Verschiedenen. Meine Forschungsperspektive.
Im gleichen Jahr, in dem Richard Weizsäcker seine Rede zur Normalität der Verschiedenheit hält und Annedore Prengels „Pädagogik der Vielfalt“ erscheint, schreibt der materialistische Sonderpädagoge Wolfgang Jantzen unter Bezugnahme auf Horkheimer:
„Wer von Integration redet, darf vom Ausschluss nicht schweigen“ (Jantzen 1993, S. 67; Horkheimer 1939).
Manfred Gerspach erkennt bei Jantzen, dass es neben einer Inklusionsforschung, die u.a. neue Begriffe definiert und mit ihnen auf das Verbindende zielt, auch einer kritischen Exklusionsforschung bedarf:
„die sich mit Marx und Engels auf dem 'wirklichen Geschichtsboden' (Marx, Engels 1845/1846, S. 38) bewegt und 'den eklatanten Widerspruch von Wunsch und Wirklichkeit bearbeitbar macht' (Schuster 2023, S. 319). Wer hernach die Ausgrenzungsgeschichte als 'Entfremdungsgeschichte' zu deuten vermag, dem geht der Charakter 'reeller Mystifikation' (Marx 1859/1860, S. 35) auf, der einem naiven Inklusionsbegriff innewohnt. Kapitalistische Märkte sind demnach per se exkludierend und führen vornehmlich zur strukturellen Ausgrenzung vor allem von Menschen mit Behinderung (ebd., S. 321). Insofern wäre es fatal, sich vom Phänomen 'Behinderung blenden zu lassen und von den be-hindernden Bedingungen zu abstrahieren, die sich hinter den als abnormal und verrückt wahrgenommenen Verhaltensweisen verbergen' (ebd., S. 325). Schon Jantzen wies auf den Umstand hin, dass dieser Logik gemäß Menschen mit einer Behinderung über eine 'Arbeitskraft minderer Güte' verfügen (Jantzen 1979, S. 99)“ (Gerspach 2024, S. 5).
Es ist normal, verschieden zu sein. Aber ist in kapitalistischen Märkten auch normal, dass alle im Verdacht stehen, eine Arbeitskraft minderer Güte zu sein oder zu werden. Diesen Verdacht müssen alle bearbeiten.
Solange eine solche Wirklichkeit gegeben ist, erfüllt die Konstruktion mangelhafter(er) anderer Menschen und Gruppen sowie die Möglichkeit ihrer Bestrafung (u.a. durch Exklusion) eine notwendige individuelle wie kollektive Entlastungsfunktion (Auchter 2016).
In meiner Forschung bewege ich mich in diesem Feld der kritischen Exklusionsforschung in der von Gerspach überblickten Theorielinie. Eine Möglichkeit, in diesem Feld die kritische Analyse gesellschaftlicher Strukturen mit der Analyse subjektiver Strukturen systematisch zu vermitteln, finde ich in dem Theoriegerüst des Soziologen und Psychoanalytikers Alfred Lorenzer, insbesondere in seinem Werk „Die Wahrheit der psychoanalytischen Erkenntnis. Ein historisch-materialistischer Entwurf“ von 1976.
In den letzten Jahren habe ich mich mit dieser Perspektive in 3 Forschungsfeldern bewegt, in denen Andere und Fremde systematisch produziert, benachteiligt und bestraft werden:
· Inklusions-, Migrations- und Vorurteilsforschung (Kratz, Danz 2017; Kratz 2022; 2023; 2024, Kratz, Hendricks, Zimmermann 2025);
· Geschlechter- und Genderforschung (Kratz 2016; 2017; 2018; 2019; Kratz, Mirkovic 2022);
· Strafvollzugspädagogik und Heimerziehung (Kratz 2020; Kratz, Jung 2022; Kratz, Hendricks 2022);
In der Forschungsinitiative Diversität & Transformation. Heterogene Gesellschaften als Herausforderung interdisziplinärer Forschung finde ich die Möglichkeit, weitere Forschungsfelder zu betreten, Fragen zu stellen und dabei auch neue Forschungskulturen und Methoden kennenzulernen und zu verbinden. Aktuell engagiere ich mich in Cluster 4 „Fragile Teilhabe in Bildung und Gesellschaft“, in dem wir u.a. mediale Inszenierungen fragiler Teilhabe und prekäre Zugehörigkeit analysieren.
Literaturverzeichnis:
Auchter, T (2016). Das Selbst und das Fremde. Zur Psychoanalyse von Fremdenfeindlichkeit und Fundamentalismus. In: Psyche. 70(09), S. 856-880.
Fröhlich, A. (2025). Wie war das mit diesen Kindern? In: Zeitschrift Menschen, Heft 4, S. 52-56.
Gerspach, M. (2024). Zur Entkernung der Inklusionsphilosophie. In: Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Online. Weinheim und Basel: Beltz Juventa.
Jantzen, W. (1993). Das Ganze muss verändert werden. Zum Verhältnis von Behinderung, Ethik und Gewalt. Berlin: Marhold.
Lorenzer, A. (1976). Die Wahrheit der Psychoanalytischen Erkenntnis. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Prengel, A. (1993): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in interkultureller, feministischer und integrativer Pädagogik. Opladen: Budrich.
Walgenbach, K. (2021). Erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf Vielfalt, Heterogenität, Diversity / Diversität, Intersektionalität. In: Hedderich, Ingeborg; Reppin, Jeanne; Butschi, Corinne (Hrsg.): Perspektiven auf Vielfalt in der frühen Kindheit. Mit Kindern Diversität erforschen. 2. durchgesehene Auflage. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt, S. 41-59.
Weizsäcker, R. (1993). Ansprache von Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei der Eröffnungsveranstaltung der Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte. https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Richard-von-Weizsaecker/Reden/1993/07/19930701_Rede.html (zuletzt abgerufen am 24.10.2025)
Trescher, H. (2012). Kontexte des Lebens. Lebenssituationen demenziell erkrankter Menschen im Heim. Wiesbaden: Springer.

